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Italien

Unterwegs in Richtung Ewigkeit

Von Helmut Luther

18. April 2008 Links pfeift der Schnellzug vorbei, rechts dröhnt die Autobahn. Hoch oben auf grauen Betonstelzen nimmt die Autostrada del Sole den kürzesten Weg durch das Tibertal. Der Zug verkehrt mehrmals täglich auf der wichtigen Verbindungslinie zwischen Rom und Florenz. „Mythos Geschwindigkeit“ steht in Riesenlettern auf den Waggons geschrieben. Als gingen ihn die beiden modernen Verkehrswege nichts an, breitet sich im Tal unten behäbig der Fluss aus. Auch er wurde einst von zahllosen Lastkähnen und Fischerbooten befahren, trotzdem hastet er nicht auf dem Weg zur Hauptstadt und von dort weiter bis zu seiner Mündung bei Fiumicino ins Tyrrhenische Meer. Im Gegenteil, der Tiber lässt sich viel Zeit. In weiten Schleifen mäandert er durch das grün gewellte Hügelland, in das er sich im Lauf der Jahrtausende sein tiefes, von Gestrüpp und Schilf gesäumtes Bett gegraben hat. Auf dem Fluss bewegt sich ein einsamer Kajakfahrer. Sein Tourenboot schaukelt in den Wellen dahin, und auch er scheint es nicht besonders eilig zu haben. Denn selten macht er ein paar kurze Paddelschläge, viel öfter aber legt er sein Ruder quer über das Boot und lässt er sich von der starken Strömung tragen.

Auf einem Schotterweg über der Böschung treibt ein Hirte seine Schafherde vorbei. Dort, wo ein Trampelpfad zum Fluss herabführt, hat sich ein Angler einen Unterstand aus rohen Brettern gezimmert. Sonst sind hier kaum Zeichen aggressiver Naturbeherrschung zu sehen. Ohnehin ist die Aufmerksamkeit des Kanuten vollständig von den Reizen der ungewohnten Umgebung gefesselt: dem Spiel der Wellen und Strömungen, dem aufgeregten Schnattern der Wildenten und der wechselnden Färbung des Wassers, das je nach Hintergrund, Lichteinfall und Fließgeschwindigkeit zwischen einem schimmernden Moosgrün und einem satten Erdbraun changiert. Stoisch paddelt der Kanute immer weiter flussabwärts. Die Sonne steht hoch am Himmel, und die Luft ist mild. In den umliegenden Terrassenfeldern blühen die ersten Obstbäume.

Ein schicksalhafter Fluss

In sechs oder sieben Tagesetappen, meinte Andrea Ricci vom Canoa Club Città di Castello, ließe sich die Kanutour bis hinunter zur italienischen Hauptstadt auch alleine problemlos bewältigen. Er selbst organisiert die große Tiberfahrt mit Hunderten von inländischen und ausländischen Teilnehmern nun schon seit vielen Jahren; die erste „discesa internationale del tevere“ fand 1969 statt. „Nehmt ein Boot mit einem starken Kiel für die Flachstücke“, empfahl Andrea Ricci. „Und stabil genug soll es sein, damit es auf den Wildwasserabschnitten nicht kentert.“ Aber keine Angst, fügte er noch mit einem prüfenden Blick auf den Kanuneuling hinzu, eigentlich wäre der Tiber bloß ziemlich lang. „Er ist kein wirklich gefährlicher Wildwasserfluss - durchgehend Schwierigkeitsgrad eins bis zwei auf der sechsstufigen Wildwasserskala.“

Zweiundzwanzig Kilometer hat der Flusswanderer seit dem Start heute Morgen nahe der umbrischen Kleinstadt Città di Castello zurückgelegt. Nach Rom, dem Ziel der Abenteuerfahrt, sind es noch knapp zweihundert Kilometer. Da ist es beruhigend, dass ihm ein treuer Gehilfe mit Auto und Kanuträger auf den wenig befahrenen Nebenstraßen immer von Etappe zu Etappe vorauseilt. Vierhundertfünf Kilometer weit wäre die Reise, wenn man dem Lauf des Tibers von seiner Quelle am Apennin bis hinunter zur Mündung ins Tyrrhenische Meer folgte.

Er ist also weiß Gott kein gewaltiger Strom, doch er nimmt nach dem Po und der Etsch den dritten Rang unter den großen Flüssen der italienischen Halbinsel ein. Umso bedeutender ist seine Geschichte: An den Ufern des Tibers wurde einst das römische Weltreich gegründet. An ihm entlang führte über Jahrhunderte die Via Tiberina ins Herz der Christenheit. Im Bewusstsein der Italiener ist der Tiber ein mythischer Strom, in unzähligen Gedichten und Liedern wurde er besungen. „Einen im Himmel vorherbestimmten Fluss“ nannte ihn schon Vergil in seiner „Äneis“. „Mein Fluss auch du, schicksalhafter Tiber“, pries ihn im zwanzigsten Jahrhundert der Lyriker Ungaretti.

Tausend silberne Punkte

Zwei Tage später, bei den Gole del Forello hinter Pontecuti, beginnt der spektakulärste Abschnitt der Tiberfahrt. Das Tal wird zunehmend enger. Neben dem Wasserlauf bleibt kaum Platz für einen schmalen Schilfgürtel, in dem es unentwegt raschelt und seltene Wasservögel, die man nie zu Gesicht bekommen wird, ihr monotones Pfeifkonzert geben. Zu beiden Seiten steigen schroffe Felswände auf, die von feinen Rissen durchzogen werden. Hier und da lugen kleine Vorsprünge und efeuumrankte Höhleneingänge hervor, in vorgeschichtlicher Zeit sollen dort Menschen gewohnt haben. Heute verraten die Wühlspuren nachtaktiver Borstentiere und ab und zu ein umgestürztes, nie wieder aufgerichtetes Blechschild mit der Aufschrift „Parco fluviale del tevere“, dass sich in dieses Naturschutzgebiet kaum je ein Mensch verirrt. Während seiner sechsstündigen Tour von Pontecuti bis zum Lago di Corbara hat der Kanute nicht einen Menschen getroffen.

Kajakfahren auf dem Tiber ist ein einsames Abenteuer - ein stilles Zwiegespräch mit dem Fluss, der dabei immer die Regeln diktiert und sich mal munter glucksend, mal rätselhaft verschwiegen in Richtung Süden windet. Man ist zu Besuch in einer fremden Welt, einer nahen und doch so fernen Welt, deren herbe Schönheit sich nicht auf den ersten Blick erschließt. An den Rändern, dort, wo der Tiber seine Richtung ändert, türmen sich mächtige Steinwälle auf. Steine, nichts als Steine, große, kleine, flache, runde, von der Strömung geschliffene Steine, die wie auf einem Bouleplatz von Riesen wirr durcheinanderliegen. Dazwischen feinkörniger Sand, auf dem eine karge Vegetation aus Moosen und borstigen Gräsern gedeiht. Auf den zahlreichen Kiesbänken haben sich kleine Tümpel gebildet, in denen es nach Schlamm und Fäulnis riecht. Knorrige Weiden neigen sich weit über den Fluss und formen einen grünen Baldachin über ihm. Wenn die Sonne durch das Blätterdach scheint, tanzen auf dem Gewässer tausend silbrige Lichtpunkte.

Sturm über den Sabiner Bergen

Der Blick des Kanufahrers bleibt jedoch hartnäckig nach vorne gerichtet. Er tastet den Tiber nach möglichen Gefahren ab, die von trügerisch überspülten Felsblöcken oder im Wasser verkeilten Baumstämmen ausgehen. Er kann seinen Kahn mehr in die Flussmitte steuern, dann sieht er weit oben auf den Felskuppen die mauerumgürteten Dörfer vorbeiziehen. Oder er paddelt näher zum Ufer hin, an dem im Gebüsch der Fischreiher nistet und sich im verflochtenen Wurzelwerk die Wasserschildkröte sonnt.

Am fünften Tag ist das Tibertal in ein düsteres Grau gehüllt. Inzwischen ist der Kanuwanderer längst an der Hügelstadt Todi vorbeigekommen. Er hat Perugia links liegengelassen, mehrere Stromschnellen und Stauwehre überwunden, und einmal, kurz hinter Alviano, blieb auf dem Tiber sogar für einige Stunden das Wasser weg, weil die italienischen Stromgesellschaften keinerlei Rücksicht auf harmlose Kanuausflügler nehmen. Gestern ging ein verfrühtes Sommergewitter über den nahen Sabiner Bergen nieder, Sturm und Hagel wühlten den Fluss auf. Jetzt ist alles triefnass. Der Neoprenanzug, die Neoprenschuhe, die Schwimmweste, selbst die Reservekleider sind feucht und verströmen einen strengen Geruch. Doch zum Glück regnet es nicht mehr, gegen Mittag verzieht sich schließlich auch der zähe Nebelbrei. Bis nach Nazzano Farfa, dem letzten Halt vor der Hauptstadt, fehlen lächerliche drei oder vier Paddelstunden auf einem Fluss, der sich nun breit und angeschwollen durch die latinische Tiefebene wälzt.

Der Glanz des Marmors

Dann noch einmal in die feuchten Sachen schlüpfen, noch einmal das schwere Boot über die Böschung schleifen, noch einmal das schmerzhafte Ziehen in den Schultern und Armen bei den ersten, zögernden Paddelschlägen. Und doch ist in Castel Giubileo, am Stadtrand von Rom, alles vollkommen anders. Größer könnte der Gegensatz zwischen dem Tiber und seiner Umgebung nicht sein: Oben herrscht Chaos. Autos hupen, Fußgänger drängeln, sämtliche Zufahrtsstraßen sind verstopft, jeder der fünf Millionen Einwohner scheint an diesem Vormittag unbedingt in das brodelnde Stadtzentrum zu müssen.

Der Fluss hingegen schweigt. Es herrscht Stille, und obwohl der Tiber seinem Bestimmungsort nun so nahe ist, wirkt er wie die Ruhe selbst, von Aufregung keine Spur. Die Akazien blühen, ein Aalfischer richtet seine Reusen her, weiter unten schippern Ausflugsboote vorbei, und am schattigen Ufer hocken der Reihe nach Angler in ihren mitgebrachten Campingstühlen. Im dunklen Gewässer spiegeln sich die Hochhäuser der unaufhaltsam in das grüne Umland vordringenden Großstadt. Dann ein leichter Wind, Wellen kräuseln sich, und schließlich schält sich der kühne Brückenbogen des Ponte Milvio aus dem Dunst heraus. Das Bauwerk ist ganz aus Marmor, sein weißer Glanz blendet die Augen.

Hier besiegte im Jahr 312 Kaiser Konstantin seinen Mitkaiser Maxentius. Über den Ponte Milvio erreichten die Rom-Pilger viele Jahrhunderte lang die Ewige Stadt. Und auch der einsame Tiberpaddler ist jetzt an seinem Ziel angekommen.

Anreise: Nach Città di Castello kommt man über die A1, Ausfahrt Arezzo, von dort eine halbe Stunde weiter auf der SS73. Der nächste Regionalflughafen ist im 45 Kilometer entfernten Perugia.

Ausflüge: Kanukurse am Tiber werden vom Canoa Club Perugia angeboten (www.canoaclubperugia.it).

Information: Tourismusinformation Perugia, Telefon: 0039/0755/ 736458, Internet: www.perugia.umbria2000.it; Tourismusinformation Città di Castello, Telefon: 0039/0758/ 554922, Internet: www.cittadicastello.umbria2000.it.



Text: F.A.Z.
Bildmaterial: ASSOCIATED PRESS, F.A.Z.

 
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